Holtenauer Geschichte

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Der Eiswinter 1928/29

Weit über Kiel hinaus bekannt geworden sind die Holtenauer Lotsen durch den Lotsengesangsverein Knurrhahn, der im Eiswinter 1928/29 – als die Schifffahrt bei Temperaturen von bis zu minus 21°C durch den zugefrorenen Kanal und Ostsee zum Erliegen gekommen war – durch Holtenauer Lotsen gegründet wurde. Regelmäßiger Treffpunkt des Chors war anfangs die Gaststätte Wartehalle am Holtenauer Bootshafen, dem Liegeplatz der Lotsen­versetz­boote, später dann das in unmittelbarer Nähe liegende Holtenauer Lotsenhaus.

Vollschiff Bremen Abb.: Das Vollschiff Bremen auf der zugefrorenen Förde vor Holtenau.

Damals mußten viele Schiffe im Eis überwintern und die mittlerweile freiberuflichen Lotsen waren in diesen Monaten natürlich ohne Arbeit und Einkommen. Der Kaiser-Wilhelm-Kanal war zwar bereits im Winter 1896/97 zum ersten Mal zugefroren, doch im Eiswinter 1928/29 lagen auf der Holtenauer Reede mehr als 60 Schiffe mit über 1.000 Mann Besatzung fest. Der Rumpf des Motorschiffs Lohengrin, das in der Kieler Bucht fest lag, wurde durch das Treibeis aufgeschlitzt, so daß das Schiff kenterte und der Kapitän ums Leben kam während die restliche Besatzung gerettet werden konnte.

Eingefrorene Schiffe Abb.: Eingefrorene Schiffe vor Holtenau. Unten in der Mitte das Kanalpackhaus.

Die eingefrorenen Schiffe zogen nicht nur viele Schaulustige an, die über das Eis flanierten, sondern waren für wenige Monate eine nie dagewesene Einnahmequelle für die Holtenauer Schiffshändler. Die auf ihren Schiffen festsitzenden Seeleute mußten mit dem Lebens­notwendigen teilweise aus der Luft versorgt werden. Auch den Kanal konnten weder Schiffe passieren, noch konnten die Fähren den Kanal überqueren, so daß der Querverkehr über den Kanal bei den Fährstellen direkt über das Eis geleitet wurde, nachdem man die Tragfähigkeit des Eises durch ein Fuhrwerk mit zwei Wagen von je 4 Tonnen geprüft hatte.

Auf der Förde Abb.: Auf der Förde vor Holtenau. Links in Hintergrund die Dankeskirche und rechts vor dem Wald Voßbrook der Leuchtturm. Mit der Zeit führten regelrechte Wege über das Eis, die nicht nur von Fußgängern, sondern auch von Pkws befahren wurden.

Am 12. Februar 1929 schrieb die Kieler Zeitung:

Die große Ansammlung von Dampfern, die augenblicklich in Holtenau liegt, war das Ziel mancher Leute, denen es natürlich viel Spaß machte, ganz an die manchmal recht großen Schiffe heranzugehen. Die Besatzungen führen ein bequemes Leben, und die Holtenauer Schiffshändler haben an der Verpflegung der über 1000 Köpfe zählenden Besatzung eine gute Einnahmequelle, denn die meisten Dampfer haben ihren Proviantbestand bereits verbraucht. Versorgung der Schiffe Die Kapitäne und besonders die Reeder sind natürlich über das Festliegen keineswegs erbaut, besonders, weil sich noch gar nicht voraussehen lässt, wann die Schiffe ihren Weg fortsetzen können. Immerhin sind sie ja noch nicht so schlimm dran, wie jenes Schiff im Kattegatt,das im Kampf mit dem Eis den ganzen Kohlenbestand verbrauchte und schließlich die Ladung, aus Klippfisch bestehend, zum Heizen benutzte. Muß das „gerochen“ haben.

Schon zu Beginn der zweiten Neujahrswoche des Jahres 1929 zeigte das Thermometer an der Ostsee 11 Grad Kälte, am 3. Februar fiel die Temperatur auf minus 21 Grad und am 10. Februar auf minus 25 Grad, am 12. Februar erreichte die Rekordkälte in Deutschland in Hüll (Niederbayern) -37,8°C! Und diese Kälte hielt an.

Abb.: Blick über den Kaiser-Wilhelm-Kanal auf die Kanalstraße.

Die Ostsee hatte schon so manchen Kälteeinbruch erlebt, dieser Kälteeinbruch aber schlug alle Rekorde. Auf der Ostsee herrschte Notstand und von überall her sandten Schiffe durch SOS dringende Hilferufe, denn sie liefen Gefahr, von den Eismassen zerdrückt zu werden und auf manchem Schiff ging der Proviant zu Ende. Und an Land liefen die Reeder Sturm, die nicht nur ihre Schiffe zu retten versuchten, sondern auch, um Prozesse wegen Nichterfüllung von Frachtverträgen abzuwenden.

Vor der Dampferbrücke Abb.: Vor der Dampferbrücke am Holtenauer Leuchtturm.

Die Reichsregierung war alarmiert und entsandte die Linienschiffe Schleswig-Holstein und Elsaß in die westliche Ostsee, wo beide Schiffe mit Unterbrechungen während des gesamten Februars operierten und insgesamt 65 eingeschlossene Handelsschiffe aus ihrer Eisnot befreiten. Im März des Jahres 1929 mußten schließlich die beiden sowjetischen Eisbrecher Truvor und Jermak, für die das Deutsche Reich seit dem 21. Februar tägliche Charterkosten von 15.000 Reichsmark an die Sowjetunion zahlte, das meterdicke Eis auf dem Kanal aufbrechen.

Eisbrecher Abb.: Der sowjetische Eisbrecher Jermak (links) auf dem Kaiser-Wilhelm-Kanal bei Burg. Nur mit Hilfe der sowjetischen Eisbrecher gelang es, den Kanal wieder schiffbar zu machen.

Nachdem die Jermak Ende April einem ganzen Schiffskonvoi, zu dem unter anderem der aus den Tropen zurückgekehrte deutsche Kreuzer Berlin gehörte, von Cuxhaven durch den Kaiser-Wilhelm-Kanal den Weg gebahnt hatte, kam es auf der Holtenauer Reede dann zur Verbrüderung. Die Bordkapelle des Kreuzers spielte die Internationale und auf dem Eisbrecher wurde das Deutschlandlied intoniert.

Eisbrecher Abb.: Der Eisbrecher Jermak unter der Levensauer Hochbrücke.

Der strenge Winter 1928/29 bedeutete auch für die Holtenauer Schiffshändler eine schwere Zeit, denn einerseits mußte die auf der Kieler Förde eingefrorenen Schiffe zwar versorgt werden, andererseits ging den Kapitänen im Laufe des langen Winters das Geld aus, so daß sie die Lieferungen nicht mehr bezahlen konnten. So wurde weiter gegen das Versprechen geliefert, daß man nach Wiederaufnahme des Schiffsverkehrs die aufgelaufenen Schulden bezahlen würde.

Schiffe vor dem Leuchtturm Abb.: Eingefrorene Schiffe vor dem Holtenauer Leuchtturm.

Der Eiswinter von 1928/29 war nicht der erste und auch nicht der letzte strenge Winter an der westlichen Ostsee, der den Kanal zufrieren ließ, denn auch die Winter 1870/71, 1890/91 und 1923/24 waren extrem. Im Kriegswinter 1940/41 fror anscheinend die gesamte Ostsee zu. Dasselbe gilt für den Winter 1946/47, in dem bei Temperaturen von minus 32°C nachweisbar — man hatte inzwischen regelmäßige Beobachtungen aus der Luft eingeführt — die gesamte Ostsee zugefroren war. Der Eiswinter von 1928/29 aber ist den Menschen doch als etwas Besonderes in Erinnerung geblieben.

Dampferbrücke im Eiswinter Abb.: Die Holtenauer Reede mit Dampferbrücke im Eiswinter 1928-29 (Ende Januar 1929). Im Hintergrund das Vollschiff Bremen.

Flugzeug Abb.: Flugzeug auf der zugefrorenen Kieler Förde. Die weiter draußen eingefrorenen Schiffe mußten mit dem Flugzeug versorgt werden.

Luftbild Abb.: Die zugefrorene Holtenauer Reede und die Schleusen. Oben in der Mitte die Levensauer Hochbrücke.

Dass es auch andere strenge Winter gab, die die Kieler Förde zufrieren ließen, zeigt das folgende Bild aus dem Jahr 1922:

Eiswinter 1922

Eisbrecher Jermak am Wiker Ufer Abb.: Der sowjetische Eisbrecher Jermak am Wiker Ufer beim Kohlebunkern im Jahr 1922(?). Im Hintergrund das Wiker Gaswerk.

Abb.: Der Eisbrecher Jermak am Wiker Ufer 1929.

Die Erfahrung einer immer mal wieder zufrierenden Förde war auch einer der Gründe, die den deutschen Generalstabschef Moltke gegen den Kanalbau argumentieren ließen.

Eisbrecher Jermak Abb.: Der sowjetische Eisbrecher Jermak im Binnenhafen.

Eiswinter 1963 am Tiessenkai Abb.: Der Eiswinter 1963 am Tiessenkai. Vorne rechts einer der Anleger für die Bunkerschiffe. [Magnussen, Friedrich (1914-1987)-(CC BY-SA 3.0 DE)]

Siehe auch:

© Bert Morio 2018 — Zuletzt geändert: 23-08-2020

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