Wie viele andere Städte
und Gemeinden im Dritten Reich erlebte auch das gerade einmal ein
Jahrzehnt zuvor nach Kiel eingemeindete
Holtenau die gewaltigen Veränderungen durch die Machtergreifung
der Nationalsozialisten. Bei den beiden letzten freien
Reichstagswahlen in den Jahren 1930 und 1932 war der Anteil der NSDAP-Wähler im Wahlbezirk Holtenau mit 5
Prozentpunkten unter dem Kieler Durchschnitt von 22,7 % bzw. 45,9
% wie auch in Pries und
Friedrichsort unterdurchschnittlich hoch.
Abb.: In der Richthofenstraße an der Ecke zur Schwester-Therese-Straße.
Nach der so genannten Machtergreifung
im Januar
1933 wurde aber auch in Holtenau recht schnell Flagge gezeigt, was
auch der Holtenauer Hans Flechsig — später ein bekannter Kieler
Arzt — in seinen Erinnerungen beschreibt:
Überrascht war ich, und daran erinnere ich mich sehr genau, wie viele Bürger damals schon mit den Nazis sympathisiert hatten und es erst jetzt offen zeigten. Es hingen plötzlich an zahlreichen Häusern aus den Fenstern Hakenkreuzflaggen, und die Embleme der anderen Parteien verschwanden genauso schnell.1
Bei den letzten schon nicht mehr freien jedoch zumindest pluralistischen Reichstagswahlen vom 5. März 1933 durften deutsche Seeleute ohne festen Wohnsitz per Stimmschein in extra für sie eingerichteten Wahllokalen wählen, weil man sich davon zusätzliche Stimmen für die konservativen Parteien erhoffte. So war es beispielsweise vom 23. Februar bis zum 10. März auf der Holtenauer Schleuse möglich, seine Stimme abzugeben.
Bei den Kommunalwahlen vom 12. März 1933 gab es für die Vororte
Holtenau, Pries und Friedrichsort eine Nationale
Einheitsliste
, die auf 1,7 % der Stimmen kam.
Zusammen mit der Kampffront Schwarz-Weiß-Rot
(8,8
%) und der NSDAP (43 %) erreichten die nationalen Kräfte so im
Kieler Stadtparlament die absolute Mehrheit.
Das Leben in Holtenau wurde auf vielfältige Weise in nahezu allen Bereichen durch das nationalsozialistische Regime beeinflusst. Vielen Vereinen oder Institutionen wurden nationalsozialistische Organisationen übergestülpt oder sie wurden in diese eingegliedert. So gab es eine Holtenauer Gruppe der Hitlerjugend (HJ), des Bundes Deutscher Mädel (BDM) und die Bauern, die ein Pferd besaßen, konnten Mitglied der Reiter-SA werden, die ihre Standorte in Friedrichsort und Kiel hatte. Natürlich gab es auch die normalen SA-Mitglieder in Holtenau. Und als bereits alles verloren war, wurde sogar noch eine Werwolf-Gruppe in Holtenau aufgestellt.
Abb.: Das Café Günther in der Kanalstraße.
Viele der erwachsenen Holtenauer waren freiwillig oder aber auch gezwungenermaßen in der SA (=Sturmabteilung) oder aber in der NS-Frauenschaft organisiert. Die SA trieb unter anderem neben der politischen Schulung eine paramilitärische Ausbildung mit Schießen, Geländedienst und Wehrsport. Größere Aufmärsche wurden in Kiel abgehalten und Delegationen zu den Reichsparteitagen nach Nürnberg gesandt.
Die Vereinnahmung der Kinder und Jugendlichen durch das NS-Regime führte auch dazu, dass die Kirchengemeinde Holtenau bereits 1933 ihre Jugendarbeit einstellen musste. Auch die Holtenauer Vereine gerieten unter den neuen Machthabern zunehmend in schwieriges Fahrwasser. So gut es ging, versuchte man sich mit den neuen Verhältnissen zu arrangieren um die Vereinsarbeit in irgendeiner Art und Weise fortführen zu können, oder wie es Paul Harste beschreibt:
Nach der Machtübernahme wurden alle Vereine vor erhebliche Probleme gestellt. Jeder mußte versuchen, so gut wie möglich damit fertig zu werden. Viele versuchten es mit einer gewissen Neutralität gegenüber den neuen Machthabern.2
Gerade für den TV Holtenau wurde die Arbeit durch das Regime immer mehr erschwert, denn viele Holtenauer mussten in verschiedensten NS-Organisationen Dienst tun und standen damit der Vereinsarbeit nicht mehr im vollem Maße zur Verfügung. Gleichzeitig versuchte das Regime auch, den Einfluß der Vereine auf die Jugendarbeit zurück zu drängen, zum Beispiel durch eine Bestimmung aus dem Jahr 1935, die verfügte, dass Vereine nur noch dann Jugendliche unter 18 Jahren aufnehmen durften, wenn diese bereits einer NS-Jugend-Organisation angehörten — also bereits unter direktem Einfuß des NS-Regimes standen.
Ab.: Schiffsausrüster Ankersen in der Kanalstraße.
Der 1. Mai, der nun Tag der Arbeit
hieß, wurde
auch in Holtenau groß gefeiert. Er begann mit einem Umzug der Werktätigen
,
der Partei-Gliederungen und einigen Festwagen. Dazu kamen
Veranstaltungen auf dem Sportplatz,
denen abends in vielen Holtenauer Gaststätten
Tanzveranstaltungen folgten.
Wie sehr all diese verschiedenen Maßnahmen das bis dahin sehr reiche gesellschaftliche Leben der Holtenauer auslöschten, so dass daran auch in der Nachkriegszeit trotz des großen Bevölkerungszuwachses durch die Flüchtlinge nicht mehr angeknüpft werden konnte, beschreibt Paul Harste in seiner 75jährigen Vereinsgeschichte des TuS Holtenau:
Viele dieser kleinen Vereine, die sich die Pflege kultureller Aufgaben zum Ziel gesetzt hatten, stellten nach 1933 ihre Arbeit ein. Der Allmachtsanspruch der NS-Gewaltigen zerstörte viele kulturelle und volkstümliche Gemeinschaften, die sich auflösten oder aufgelöst wurden und auch nach dem Zusammenbruch des Jahres 1945 nicht wieder in Erscheinung traten.
Siehe u. a. auch:
Säuglingsfürsorgestellein der Warmbadeanstalt bzw. dem
Wohlfahrtshausin Holtenau. Sein Bruder, der prominente Rechtsanwalt und von Stadtverordnetenvorsteher von 1919 bis 1925 Dr. Wilhelm Spiegel (* 22.06.1876), wurde von Anhängern der Nationalsozialisten am 12. März 1933 in seinem Haus ermordet. Wie alle jüdischen Ärzte erhielt er Berufsverbot und konnte schließlich noch ins Ausland flüchten.
Die Wiederaufrüstung während des Dritten Reiches betraf sowohl die Marine als auch die Luftwaffe. Die ehemals selbständigen Marineflieger wurden in die Luftwaffe eingegliedert und es wurden für die zugezogenen Wehrmachtsangehörigen neue Behausungen — insbesondere in der bis dahin weitgehend unbebauten Grimmstraße wurden ausgedehnte mehrgeschossige Backsteingebäude errichtet.
Der Landflugplatz wurde wie viele andere Flugplätze im Dritten
Reich zu einem Fliegerhorst
ausgebaut. Es wurde
im Wald bei Barkmissen
ein Munitionslager für den Flugplatz
angelegt und mit diesem durch eine Betonstraße verbunden. Teile
dieser Straße existieren auch heute noch im Stifter Wald.
Z-Plan
In den Jahren vor Kriegsbeginn gab es mehrere Pläne zum Aufbau
einer gigantischen Hochseeflotte, die unter dem Namen Z-Plan
firmierten. Zeitweise
gab es sogar Überlegungen, im Voßbrooker
Gebiet einen neuen Stützpunkt für die zukünftige Flotte zu bauen.
Da der Kaiser-Wilhelm-Kanal für die
projektierten neuen Schlachtschiffe zu eng gewesen wäre, gab es
bereits konkrete Pläne und Vorbereitungen für einen erneute Erweiterung des Kanals.
Die Eingriffe des Regimes in das Leben der Holtenauer waren gravierend, obwohl man — glaubt man den Schilderungen mancher damals lebenden Holtenauer — den Eindruck gewinnt, dass vieles alleine schon dadurch abgemildert wurde, dass in der kleinen Gemeinde nahezu jeder jeden kannte.
Es gibt aber auch gegenteilige Schilderungen, auch wenn es möglicherweise nur Einzelschicksale sind. Zudem darf man nicht vergessen, daß durch den Ausbau des Flugplatzes auch Hunderte ortsfremder Menschen nach Holtenau zogen. Und der möglicherweise relativ tolerante Umgang miteinander sagt nur wenig darüber aus, wie man sich gegenüber Ortsfremden verhielt. So zeigen auch die Schilderungen der Heimatvertriebenen, die hier nach Kriegsende einquartiert wurden, daß man durchaus dazu bereit war, diese Menschen zu stigmatisieren, wie es Uwe Carstens in seinem Buch über die Kieler Flüchtlingslager ausführlich beschreibt3.
Das Leben der Kirchengemeinde wurde seitens des Regimes stark eingeschränkt. Das beginnt bereits ganz anschaulich im Jahr 1935 mit dem Umbau der Dankeskirche, geht über die eingeschränkte Jugendarbeit, dem ständigen Wechsel der Pastoren während des Krieges bis hin zum Einschmelzen der Kirchenglocken für die Metallsammlung (siehe auch: Kaiser-Wilhelm-Denkmal) und der Einstellung der Arbeit der Holtenauer Seemannsmission.
Da das Regime in den bestehenden Vereinen in der Regel eine Konkurrenz zu den eigenen nationalsozialistischen Institutionen sah, wurde insbesondere die Jugendarbeit stark reglementiert. Oft war die Mitgliedschaft in einem Verein nur möglich, wenn man gleichzeitig einer NS-Organisation beigetreten war. Auf diese Weise weitete das Regime seine Zugriff gerade auf die Kinder und Jugendlichen immer weiter aus.
Im März 1933 wurde durch Walter Schulz im Turnverein Holtenau die Turnerjugend
gegründet, deren Uniform
aus einer schwarzen Hose, blauem
Hemd und einem schwarzen Halstuch mit gelben Lederknoten bestand.
Doch traten ihre Mitglieder schon nach kurzer Zeit geschlossen in
die Hitlerjugend über.
Im Rahmen des durch die Nationalsozialisten eingeführten
Arbeitsdienstes gab es auch für das Voßbrooker
Gelände weitreichende Pläne, wie sie der folgende Ausschnitt
aus den Kieler Neuesten Nachrichten
aus dem Mai
1933 beschreibt:
Das Arbeitslager Voßbrook ist das einzige geschlossene Kieler Lager für den männlichen Arbeitsdienst 12 . Die Unterbringung ist in der Bürobaracke der früheren Ubootswerft erfolgt. Die Belegschaft hat selber durch eigene Arbeit sich diese Unterkunft geschaffen. Es werden Erdbewegungsarbeiten im Hafengelände Voßbrook, an der ehemaligen Straße “Schwarzer Weg” ausgeführt. Zur Zeit werden 60 junge Leute beschäftigt. Etwa 4000 Tagewerke sind noch zu leisten. Beabsichtigt ist, dieses Lager weiterzuführen und noch etwa 50.000 Tagewerke anzugliedern. In Frage kommt die Urbarmachung der Stechendamm-Wiesen, die Einebnung des Kleingartengeländes am Auberg, außerdem Böschungs- und Einebnungsarbeiten am Nordhafen. Weitere 15000 Tagewerke sind inzwischen bereitgestellt. Das Lager ist derartig ausbaufähig, daß der Gedanke aufgetaucht ist, es zu einem Stammlager zur Durchführung der Arbeitsdienstpflicht umzugestalten. Auch die landschaftliche und gesundheitliche Lage wäre für ein solches Stammlager ganz außergewöhnlich günstig. Träger des Dienstes ist nunmehr die NSDAP.
Das RAD-Lager in Holtenau wurde unter der Nummer 1/73 Arbeitsgau VII (Kiel) verwaltet. Im Gebiet der Waffenschmiede gab es ein Lager des Reichsarbeitsdienstes.
Es dauerte nicht lange, dann bekam der Begriff Arbeitslager eine neue erschreckende Bedeutung. Am Ende des Zweiten Weltkrieges gab es im Raum Kiel Dutzende von Lagern für Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, davon auch einige auf Holtenauer Gebiet. Daneben waren auch einzelne Zwangsarbeiter einzelnen Firmen zugeteilt.
Eigentlich ist es ja nicht anders zu erwarten gewesen, aber Holtenau und Zwangsarbeiter? In den Jahren von 1939-45 wurden in Schleswig-Holstein mehr als 200.000 Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen aus vielen europäischen Staaten in den verschiedensten Wirtschaftsbereichen, so z. B. in der Landwirtschaft, in der Industrie, im Handwerk und auch im öffentlichen Dienst eingesetzt. In vielen Fällen als Ersatz für die zum Kriegseinsatz rekrutierte männliche Bevölkerung.
Nach Angaben der Forschungsgruppe Zwangsarbeit in
Schleswig-Holstein
(FGZSH) befand sich ein Arbeitslager im Bereich der Waffenschmiede.
Es hatte 331 Plätze und es waren dort neben Deutschen auch Dänen,
Tschechen, Ungarn und Niederländer inhaftiert. Ein weiteres
Arbeitslager soll sich auf dem Flugplatz im Bereich Schusterkrug befunden haben. Das
Barackenlager in der Waffenschmiede wurde während des Krieges von
Angehörigen des Reichsarbeitsdienstes und Soldaten bewohnt. Nach
dem Krieg wurden hier Heimatvertriebene
untergebracht.
Auf dem Marineschießplatz wurden während des Krieges Dutzende von Soldaten der Wehrmacht exekutiert, von denen der hier im Jahr 1944 erschossene Uboot-Kommandant Oskar Kusch der bekannteste ist.
Die schwere Flakbatterie Holtenau lag am
Jaegersberg, also wie der Marineschießplatz
westlich des Hochbrückendamms. Während des Krieges wurden hier
auch Flakhelfer bzw. Marinehelfer — zu einem großen Teil aus der
Hebbelschule — eingesetzt; dazu kamen noch sowjetische
Kriegsgefangene als so genannte Hiwis
(=
Hilfswillige!).
Heimatfrontan die sich an der Front befindlichen
Kameradendes Holtenauer
SA-Marinesturms 1/44aus dem Sommer 1943.
© Bert Morio 2017 — zuletzt geändert: 17-07-2021
Flechsig, Hans: Erinnerungen eines Kieler Arztes, Kiel 1988. ↩
Ich habe das Gefühl, dass es sich hierbei um ein geschöntes Bild dieser Zeit handelt, denn es gibt doch sehr viele Indizien, die ein anderes Bild zeichnen; siehe nur das Zitat von Flechsig weiter oben! Obwohl meine Großmutter während des Dritten Reiches und auch die Kriegsjahre über in Holtenau lebte, wurden diese Themen nie angesprochen. Auch von anderer Seite wurde nie darüber gesprochen, was auf dem Marineschießstand geschehen ist. ↩
Carstens, Uwe: Die Flüchtlingslager der Stadt Kiel. Sammelunterkünfte als desintegrierender Faktor der Flüchtlingspolitik, Marburg 1992. ↩